„Und auf der Heimfahrt dann der Fliehkraft-Scooter! Einmal nahm ich einen fest angestellten, dürren Pädagogen mit, der immer ein Körbchen mit Strickzeug dabei hatte. Richard ahnte nichts von Fliehkraftscooter und machte zwei Fehler. Er schnallte sich nicht an und seine dürren Ärmchen hatten die Beifahrertür nicht fest genug geschlossen. Schon nach der ersten Kurve verschwand Richard. Wie in Matrix beobachtete ich noch eine Weile, das vor der offenen Autotür wirbelnde Körbchen mit Strickzeug und eine einzelne, rotierende Birkenstocksandale.“ (mehr davon).
Ich war im Zivildienst aufgrund ärztlicher Erkenntnisse nicht zum Führen von Kraftfahrzeugen geeignet. Die Zivi-Obermutter im Krankenhaus hat sich nur etwas gewundert, warum so viele Zivis kein Auto fahren durften. Als sie hinter das Geheimnis dieser Formulierung kam, durften erstmal alle Zivis antreten und schwören, dass sie nie wieder Rauschgift nehmen werden.
Im Krankenhaus sterben gelegentlich Menschen, besonders wenn sie auf einer Station untergebracht sind, die extrem viel und interessantes technisches Spielzeug am Bett zu bieten hat. Man stelle sich das mal vor: Beatmungsgeräte mit farbigen LCD-Touchscreens! Zu Zeiten als AOL noch Disketten verschickte…
Meine Fahrertätigkeit beschränkte sich also auf den Leichentransport. Zunächst hatten wir noch Wagen, die an die Einrichtung rumänischer Krankenhäuser mitte der 80er erinnerten. Ein Rohrgestell mit Rädern und oben eine Liegefläche aus Stoff undefinierbarer Farbe, vielleicht 50cm breit. Nun waren die Fahrgäste gelegentlich etwas breiter und die Zivis entwickelten eine hohe Wissenschaft, wie man die Arme positioniert, um zu verhinern, dass die Damen und Herren unterwegs anfangen zu winken. Nichts jagt einem einen größeren Schrecken ein, als wenn man durch die dunklen Kellerflure des Krankenhauses fegt und plötzlich ein Arm unter dem Laken hervor rutscht um fröhlich herumzuwackeln.
Die Route dauerte, je nach Zuladung, etwa 5 Minuten. Zivis, von Natur aus faul, neigen dazu jeden noch so kurzen Weg zu optimieren um die gesparte Zeit in Nikotin zu investieren. Eine kurze Analyse ergab, dass der Weg durchs Herzkatheterlabor etwa 80% Zeiteinsparung bedeutet. Natürlich war es uns streng untersagt, diesen Weg zu beschreiten, trotzdem kannten alle Zivis den Zugangscode zum Labor. Die Fahrt endete in einer Art gefliesstem Kühlschrank, in dem maximal 9 Verblichene Platz fanden. Erwähnte ich schon, dass Zivis fauls sind? Natürlich schieben alle Ihre Lieferung nur knapp durch die Tür und verschwinden so schnell wie möglich. Auch Jungs gruseln sich und da war ja noch die Zigarettenpause. Also darf man fluchend bei vier Grad Celsius die Wagen mit den bezettelten Käsefüßen so lange hin- und herschieben, bis genug Platz für den eigenen Patienten ist.
Eines Tages verkündete Stationsschwester H., etwa ein Jahr vor der Rente, Affäre mit dem parkinsongeschädigten Chefarzt im gleichen Alter, dass wir nun endlich neue Leichenwagen bekommen. Wir konnten kaum den nächsten Transport erwarten um die neuen Wagen auszuprobieren. Als es soweit war, machte sich eine gewisse Enttäuschung breit. Zwar sahen die Wagen sehr exquisit aus: gebürstetes Edelstahl, man war versucht noch einen Mercedes-Stern vorne zu montieren, jedoch hatten die Gefährte nun eine Art Käseglocke als Deckel. Das Winkeproblem hatte sich damit erledigt, aber die Deckel waren so groß und schwer, dass man sie alleine kaum anheben konnte. Die alten Wagen hatten mit Füßen voran und gelegentlichem Wink-Effekt eine hervoragende Wirkung auf verirrte Krankenschwestern in dunklen Kellerfluren. Leider schepperten die neuen Wagen beim Fahren so laut, dass man niemanden mehr erschrecken konnte, wenn man mit seiner Fuhre um die Ecke bog. Selbst das lustige Kühlschrankspiel „kuck mal wer dort drunter liegt“ hatte sich damit erledigt. Wir waren alle ein wenig traurig, jeder auf seine Weise.